Herrn Bundeskanzler
GERHARD SCHRÖDER
Bundeskanzleramt
D-11012 BERLIN
Wien, am 4. Februar 2000
SCHWERWIEGENDE UND ANHALTENDE MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN IN ÖSTERREICH
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!
Wir wenden uns an Sie in Zusammenhang mit der Diskussion über die neue Regierung und die Verletzung von Menschenrechten in Österreich. Wir möchten Sie darüber in Kenntnis setzen, daß Österreich durch die Aufrechterhaltung einer höheren Mindestaltersgrenze für (männliche) homosexuelle Beziehungen (18 Jahre) im Vergleich zu heterosexuellen Beziehungen (14 Jahre) schwerwiegende und anhaltende Menschenrechtsverletzungen begeht. 1997 hat die Europäische Menschenrechtskommission in Straßburg festgestellt, daß eine derartige diskriminierende Bestimmung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Zwei Versuche, dieses Gesetz (Paragraph 209 österr. StGB) aufzuheben, scheiterten im vergangenen Nationalrat (1996 und 1998) am Widerstand der Österreichischen Volkspartei und der Freiheitlichen Partei Österreichs, die auch in der abgelaufenen Legislaturperiode über eine parlamentarische Mehrheit verfügten. § 209 wird daher weiterhin angewendet. Jedes Jahr kommt es im Durchschnitt zu 50 Ermittlungen und rund 20 Verurteilungen nach diesem Paragraphen. Der Strafrahmen bewegt sich zwischen sechs Monaten und fünf Jahren Gefängnis.
Österreich hat jedoch nicht nur die Entscheidung der Europäischen Menschenrechtskommission ignoriert, sondern auch die Aufforderungen, § 209 aufzuheben, die der UNO-Ausschuß für Menschenrechte und das Europäische Parlament in vier Entschließungen getätigt haben. In der Anlage übermitteln wir ihnen nähere Informationen darüber, allerdings in englischer Sprache.
Österreich muß sicherlich ein sehr schlechtes Zeugnis ausgestellt werden, was die Achtung voller Menschenrechte von Lesben und Schwulen betrifft. Erst 1996 wurden zwei andere Strafrechtsbestimmungen, die grundlegende Menschenrechte von Lesben und Schwulen verletzten, abgeschafft: das Vereinsverbot für Lesben- und Schwulenorganisationen (gegen die Stimmen der ÖVP) sowie das Verbot der Verbreitung positiver Informationen über Homosexualität. ÖVP und FPÖ waren gegen letztere Reform, sie wurde jedoch angenommen, weil einige FPÖ-Abgeordnete die Abstimmung versäumten.
Österreich ist auch bekannt dafür, daß es sich seiner Vergangenheit im Dritten Reich nur sehr spät und widerwillig gestellt hat. Diese Vergangenheitsbewältigung war stets auch sehr schwierig und ist bei weitem noch nicht abgeschlossen. Die lesbischen und schwulen Opfer des Nationalsozialismus, die die Konzentrationslager überlebten, haben nie eine Entschädigung wie andere Opfergruppen erhalten. Wie Sie wissen, waren Homosexuelle eine spezifische Gruppe, die von den Nazi systematisch verfolgt wurde und in den Lagern ein eigenes Erken-nungszeichen tragen mußte, den rosa Winkel. Als 1995 das österreichische Opferfürsorgegesetz zuletzt novelliert wurde, wurde der Antrag auf Ausweitung seines Begünstigtenkreises auf wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgte Personen durch die ÖVP/FPÖ-Mehrheit im Parlament niedergestimmt.
Diese zwei Parteien verfügen nun nicht nur wieder über eine parlamentarische Mehrheit, sondern stellen auch die neue Regierung. Das bedeutet, daß die Menschenrechtsverletzungen an Homosexuellen fortbestehen werden. Es besteht keine Aussicht auf Wiedergutmachung für die lesbischen und schwulen Opfer des Nazi-Regimes, ganz zu schweigen von positiven Entwicklungen, wie die Verabschiedung eines Antidiskriminierungsgesetzes oder die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher PartnerInnenschaften. Die ohnehin schwierige Lage von Schwulen und Lesben könnte sich sogar noch verschlechtern. Obwohl ÖVP und FPÖ bei der Regierungsbildung eine Erklärung betreffend die Achtung von Menschenrechten unterschrieben haben, befürchten wir, daß die Menschenrechte von Lesben und Schwulen darin nicht vorgesehen sind. Die bisherigen, vorhin geschilderten Erfahrungen mit diesen beiden Parteien zeigen deutlich, daß ihnen ganz einfach jegliches Bewußtsein dafür fehlt, daß Menschenrechte auch für Lesben und Schwule zu gelten haben.
Wir sind indes der Ansicht, daß die Beibehaltung und fortgesetzte Anwendung des § 209 „eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung“ von in Artikel 6 Absatz 1 EU-Vertrag genannten Grundsätzen durch einen Mitgliedsstaat darstellt. Wir fordern daher, daß gegen Österreich ein Verfahren gemäß Artikel 7 EU-Vertrag eingeleitet wird.
Die Europäische Union wird sich ein großes Glaubwürdigkeitsproblem einhandeln, wenn sie von den beitrittswilligen Ländern die Einhaltung hoher Menschenrechtsstandards verlangt, während in einem Mitgliedsstaat schwerwiegende und anhaltende Menschenrechtsverletzun-gen vorkommen. Als Österreich der EU beitrat, gab es weder die Kopenhagener Beitrittskriterien noch eine Bestimmung wie Artikel 7 EUV in der Fassung des Amsterdamer Vertrags. Wäre Österreich heute ein Beitrittskandidat, würde es den Kopenhagener Kriterien eindeutig nicht entsprechen.
In der Vergangenheit sind die Menschenrechte von Lesben und Schwulen immer beiseite geschoben, vernachlässigt, lächerlich gemacht oder nicht ernst genommen worden. Dies hat sich indes in den letzten Jahren durch Entscheidungen sowohl des UNO-Ausschusses für Menschenrechte als auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der Europäischen Union stark verändert. Artikel 13 EGV anerkennt, daß Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung innerhalb der Europäischen Union bekämpft werden muß.
Wir appellieren daher an Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, gemeinsam mit den Regierun-gen der anderen EU-Mitgliedsstaaten Druck auf Österreich auszuüben, damit Österreich § 209 StGB abschafft, um seine Gesetzgebung an die Europäische Menschenrechtskonvention anzupassen, alle aufgrund dieser Bestimmung inhaftierten Personen unverzüglich aus dem Gefängnis entläßt und Gesetzesbestimmungen verabschiedet, durch die lesbischen und schwulen Opfern des Nationalsozialismus Wiedergutmachung zuerkannt wird. Wir haben ähnliche Briefe auch an Ihre Amtskollegen in den anderen 13 Mitgliedsstaaten gerichtet.
Wir hoffen, daß Ihnen die Menschenrechte von Lesben und Schwulen wichtig genug sind, um in diesem vorliegenden Fall ihrer Verletzung zu handeln. Es wäre eine große Enttäuschung für uns, würde über Menschenrechtsverstöße in einem Mitgliedsstaat hinweggesehen, weil sie nur Homosexuelle betreffen.
Wir übermitteln Ihnen diesen Brief auch mit gewöhnlicher Post und werden bei dieser Gelegenheit einige Unterlagen beifügen. Wir stehen Ihnen jederzeit gerne für weitere Auskünfte zur Verfügung.
Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Unterstützung und sehen Ihrer geschätzten Antwort entgegen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Christian Högl
Obmann